Hintergrund: Otto Jabelmann, Bruder von Bruno Jabelmann, wurde im Mai 1939 Vizepräsident des „Research Bureau“ bei der Union Pacific Railroad (UP) und beeinflusste damit maßgeblich das Design der UP-Lokomotiven, Personen- und Güterwagen, vor allem der Class 3000 (Challenger) und 4000 (Big Boy). Er konnte nicht ahnen, dass ausgerechnet eine „Big Boy“ für den Kriegseinsatz der Amerikaner und die Versorgung der alliierten Truppen auch in Europa eine wichtige Rolle spielen würde und daß sein Schicksal eng mit dieser Lokomotive verknüpft sein sollte.

Der zu erwartende gigantische Materialaufwand für den Kriegseinsatz der Amerikaner in Europa und die bevorstehende Invasion in Frankreich, veranlasste das amerikanische Kriegsministerium über neue, effektive Transportmöglichkeiten nachzudenken. Auf Initiative von W. Averell Harriman, amerikanischer Diplomat und Aufsichtsratsvorsitzender von UP, reiste Otto Jabelmann im Januar 1943 nach England um die Größenordnungen der zu bewältigenden Nachschubanforderungen während einer militärischen Invasion in Europa zu untersuchen. Jabelmann kam zu dem Schluss, dass der britische Eisenbahn mindestens 1200 Lokomotiven fehlten, um den Nachschub und eine Versorgung der alliierten Truppen zu gewährleisten. Die britische Industrieproduktion war durch das allgemeine Kriegsgeschehen bereits erheblich eingeschränkt und die englische Lokomotivhersteller sahen sich nicht in der Lage in der veranschlagten Zeit von 16 Monaten die benötigte Menge Lokomotiven auf Schienen zu setzen. In seinem Bericht rechnete Jabelmann schließlich vor, daß nur fünf UP-Lokomotiven der Class 4000 in dem vergleichsweise flachen englischen Terrain, dieselben Transportkapazitäten erfüllen könnten, wenn man den Gleisoberbau und das Lichtraumprofil der wichtigsten englischen Nachschubstrecken an die Erfordernisse der 4000er anpasse.
So baute die American Locomotive Company (ALCO), neben den bis 1941 hergestellten 20 Lokomotiven der Class 4000, 1944 fünf weitere. Die Lokomotiven mit den Betriebsnummern 4012 und 4013 aus der ersten Produktionscharge, überließ die Union Pacific Railroad dem United States Army Transportation Corps (USATC), während die englische Eisenbahngesellschaft Great Western Railway ihre Strecken zwischen den Hafenstädten der Westküste (Swansea und Cardiff) und dem Süden (Plymouth) für die amerikanischen Lokomotiven anpasste.
Die beiden Maschinen 4012 und 4013 kamen in die Obhut des USATC Military Railway Services (MRS) und damit zum 723rd Railway Operating Battailon (723. Eisenbahn-Betriebs-Bataillion). Während die 4013 der 723rd als Schulungslokomotive diente, war die 4012 als Vorauslok in Europa vorgesehen. Die ALCO überarbeitete bei ihr das Fahrwerk, um engere Gleisradien befahren zu können, und reduzierte ihre Achslast für die europäischen Eisenbahngleise. Außerdem konstruierte man an Front und Heck der Lok eine neuartige Kupplungsaufnahme um die verschiedenen Wagenkupplungen der europäischen Eisenbahnen aufzunehmen: Den „Normative Europeen Main Shaft“ (NEM-Schacht), der sich heute an fast allen Lokomotiven und Wagons in ganz Europa durchgesetzt hat. Den Schriftzug „Union Pacific“ ließ man als Sponsorenname und als Gruß aus der Heimat für die amerikanischen Soldaten am Schlepptender und am Vorlauf der Lok bestehen.
In der Zwischenzeit sationierte der MRS das 723rd Railway Operating Battailon für die technische Ausbildung in Lincoln, Nebraska. Diese „Ausbildung beinhaltete die für den Eisenbahnbetrieb erforderlichen Spezialkenntnisse. Das waren alle Aufgaben im Zusammenhang mit dem Betrieb und der Instandhaltung von Eisenbahngleisen und -ausrüstung, Lokomotiven und Wagons, aber auch Auffrischungskurse in grundlegenden militärischen Themen, wie z.B. Feldgeschütze mit Maschinengewehren des Kalibers 50, Nahkampfübungen, Calisthenik, chemische Kriegsführung und andere Ausbildungen, die dazu beitrugen, eine effizientere Einheit für den Schutz und den Betrieb einer Eisenbahn zu schaffen.“
Auch die Schulungslokomotive 4013 kam nach Lincoln. Eine 20 mannstarke Einheit aus den Reihen des 723rd sollte sich mit ihrer Hilfe für den Betrieb der 4012 in Europa vorbereiten.
Otto Jabelmann ließ es sich nicht nehmen, diese Einheit höchstpersönlich an der Schulungslokomotive 4013 auszubilden. Von ihm lernten die Männer den Betrieb und die bahntechnischen Abläufe. Ein gewisser Agnus Macgyver, Chefingenieur bei der UP und Vorbild einer in den 1980ern gedrehten gleichnamigen Fernsehserie, ließ die Männer jedes Detail und jede Komponente der Lokomotive zerlegen, studieren und wieder zusammenbauen. Denn in Europa würde es für die Wartung und Instandsetzung fehlerhafter Baugruppen, oftmals keine andere Möglichkeit geben, als die Kunst der Improvisation. Die Männer mussten ihre Lokomotive auswendig kennen und in der Lage sein „aus einer Konservendose einen Speisewasservorwärmer zu basteln“ (Macgyver).
Doch am 12. September 1943 kam es bei einer Übungsfahrt der 4013 zu einem tragischen Unfall im Führerstand der Lokomotive. An der Leitung einer schadhaften Ventilsteuerung löste sich unter hohem Druck ein Bolzen. Das Metallteil flog mit hoher Geschwindigkeit und traf Otto Jabelmann, der gerade über die optimale Brennstoffzufuhr am Stoker referierte, am Kopf. Zunächst nur mit einer Platzwunde, wird Jabelmann notdürftig versorgt. Nach einer kurzen Reparatur an der Lok wird die Fahrt in die Heimat-Station Lincoln Terminal fortgesetzt. Am Abend jedoch bricht Otto Jabelmann in seinem Büro zusammen und stirbt kurze Zeit später an den Folgen einer Hirnblutung.
In Dankbarkeit und ihm zu Ehren, nennt sich die Class-4000-Einheit des 723rd Eisenbahn-Betriebs-Bataillions von nun an: „The Jableman Corps“, oder kurz „The Jablemen“.

Im Januar 1944 geht es für die überarbeitete 4012 und dem „Jableman Corps“ schließlich nach England. In den Häfen der englischen Westküste legten bereits täglich dutzende alliierte Schiffe an, die Kriegsmaterial entluden. Die britische Eisenbahn benötigte dringend Unterstützung um die Massen an Material nach Süden transportieren zu können. Es erwies sich, daß die 4012 dreifach so lange Züge in der gleichen Zeit an die englische Südküste schleppen konnte, wie die englischen Lokomotiven, und sie übertraf damit die Berechnungen Otto Jabelmanns bei weitem.
Nach der Invasion der Alliierten in der Normandie, am 6. Juni 1944, kam die 4012 und das „Jableman Corps“ Ende Juli zusammen mit den ersten 14 Lokomotiven der Bauart S160 nach Cherbourg in Frankreich. Auch das restliche 723rd Bataillon traf in diesen Tagen mit dem Schiff aus Amerika ein.
In Cherbourg sollten die Loks den chronischen Mangel kompensieren, nachdem die Alliierten hier einen großen Teil des Lokomotivbestands durch Fliegerangriffe zerstört hatte.
Ihren Stützpunkt errichtete das 723rd am Bahnhof Surdon in der Gemeinde Chailloué, die sich etwa 200 Kilometer landeinwärts, zentral an der Eisenbahnstrecke Cherbourg – Paris befindet. Das 723rd und ihre „Jablemen“, musste von hier aus die zerstörten, aber auch manche intakten Abschnitte der Strecke, mit Hilfe zahlreicher Kriegsgefangener an die Erfordernisse der schweren 4012 anpassen. Von Cherbourg aus sollte die Lok Materialtransporte Richtung Paris übernehmen, was nicht nur wegen den Kriegsschäden im Hafen und an den Eisenbahngleisen, sondern auch wegen der ungewöhnlichen Ausmaße und des immer noch erheblichen Gewichts der Lok selbst, ein schwieriges Unterfangen war. Doch es gelang.


Als die Strecke Cherbourg – Paris im August 1944 schließlich durchgehend für die 4012 befahrbar war, befreiten die Alliierten mit Hilfe der Résistance und der französischen Armee die französische Hauptstadt von den deutschen Besatzern. Die 4012 bildete dabei das Rückgrat des „Red Ball Express“, der den ungeheuren Durst der alliierten Truppen nach Treibstoff und Munition zu stillen hatte.
Die Schulungslokomotive 4013 und die anderen drei geforderten Class 4000 kamen nicht mehr nach Europa und in den militärischen Einsatz.

Foto: Die Einsatzlok 4012 in Surdon, Frankreich. Rechts von ihr kann man eine amerikanische S160 und links eine deutsche Rangierlokomotive BR 81 vor einem amerikanischen Güterwagen erkennen. Weitere Eisenbahn-Fotos der 723rd findet man hier.
Funfact: Norton Bricusse (auf dem Gruppenbild oben zweiter „Jableman“ von links) komponierte ein kleines Lied, das unter den Eisenbahnern des MRS weltweit sehr bekannt und oft gesungen wurde: „The Jableman can“. Sein Sohn Leslie Bricusse verwendete die Melodie 1971 im Film „Willy Wonka & die Schokoladenfabrik“ und Sammy Davis Jr. machte es schließlich zu einem Welthit: „The candyman can“.
Leider wird heute auch bei den amerikanische Streitkräften nur noch die bekanntere Version gesungen, wobei das Original in Vergessenheit gerät.
Beispiel einer militärischen Vertonung:
Who can lights a hellfire
makes water into steam
A shovelful of coal makes the wheel turn around
Jableman
Otto Jableman can
the Jableman can
Cause he mixed it with the coals
Makes the wheel turn around
The Jableman makes
a journey for the great
allied soldiers and deliver
krauts bolt when they hear the whistles
and they start to eat their dishes
Who can make a big breeze
with the big boy machine
no mountain´s too high, no valley´s too deep
Jableman
Otto Jableman can
the Jableman can
cause he mixed it with the coals
makes the world turn around
Die Geschichte der Class 4012 und ihrem „Jableman Corps“ war damit aber nicht zu Ende – ein späteres Kapitel wird noch darüber berichten….
Zunächst wenden wir uns wieder der Königin zu:
Fortsetzung folgt: Operation „SoftDrive-Sinus“ Teil 1
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